von Anja Gawlitza, Jasper Steingrüber, Alexander Seltmann, Kai Sporkmann, Friederike von Breitenbach, Christiane Kampen
Pflegenotstand, Diskussionen um eine Verringerung der Anzahl deutscher Kliniken bis hin zu hochspezialisierten „Superkliniken“, Reform der Notfallversorgung, Privatisierung von Krankenhäusern – die Ökonomisierung des deutschen Gesundheitswesens ist in aller Munde und betrifft direkt oder indirekt nicht nur die Beschäftigten im Gesundheitswesen, sondern auch jeden, der auf medizinische Hilfe angewiesen ist.
Daher veranstaltete das MediNetz Jena am 23.10.2019 die Podiumsdiskussion zum Thema „Wo bleibt der Mensch?“. Ausschnitte aus dem 2018 erschienenen Dokumentarfilm „Der marktgerechte Patient“ von Leslie Franke und Herdolor Lorenz bildeten die Grundlage für rege Diskussionen. In einer Runde bestehend aus Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner (Die Linke), dem kaufmännischer Vorstand des Universitätsklinikums Jenas (UKJ) Brunhilde Seidel-Kwem, dem Vorsitzenden des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte Peter Hoffmann und Ellen Ost – Fachkrankenpflegerin am UKJ – wurde kritisch über die Ökonomisierung des Gesundheitssystems debattiert. Zuschauer*innen konnten sich über einen freien Stuhl direkt an der Diskussion beteiligen. Die zusätzlich eingeplante Vertreterin der Privatkliniken Thüringens konnte krankheitsbedingt leider nicht teilnehmen.
Die mit über 190 Teilnehmer*innen sehr gut besuchte Veranstaltung in den Rosensälen Jenas war aus Sicht der Organisator*innen ein voller Erfolg. Spannung lag aufgrund laufender Verhandlungen zwischen ver.di und dem UKJ bereits vor Veranstaltungsbeginn spürbar in der Luft – mit Kreide hatten Teilnehmer*innen des Bündnisses „Mehr Personal für unser UKJ“ Slogans auf die zuführenden Wege zu den Rosensälen geschrieben – „Die Klinik ist keine Fabrik“.
Frau Werner betonte, dass „die Not Gewinne machen zu müssen im Gesundheitssystem zu Verwerfungen“ führe. Der wirtschaftliche Druck, insbesondere das Fallpauschalensystem führe zum Abbau von Pflegekräften und setzte wirtschaftliche Fehlanreize für Kliniken. Das Kernelement des Fallpauschalensystems ist der Fallpauschalenkatalog mit den sogenannten DRGs (diagnosis related groups). Anhand von DRGs werden Patientenfälle, die sich medizinisch ähneln und einen durchschnittlich ähnlichen Ressourcenverbrauch aufweisen (z.B. Einsatz einer künstlichen Hüftprothese), zusammengefasst und abgerechnet – allerdings unabhängig von der Verweildauer im Krankenhaus oder tatsächlich verursachter Kosten wie zum Beispiel durch bessere Pflege. Frau Werner plädierte für eine bessere Pflegepersonalbemessung und die Abschaffung von DRGs. Bisher habe sich die Linke in Thüringen für eine gute Qualität gesundheitlicher Versorgung mittels Einführung der Facharztquote eingesetzt. Dem gerechten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung sei man durch Programme zur Gesundheitsprävention nachgekommen. Dem Pflegenotstand selbst müsse hingegen auf Bundesebene begegnet werden.
Klare Worte fand Herr Hoffmann, Oberarzt der Anästhesie eines städtischen Klinikums in München: „Ärzte sind im Fallpauschalensystem Opfer und Täter zugleich“ und rät zur Netzwerkbildung, um Missstände im Gesundheitssystem zu beseitigen. Mit seiner Botschaft richtet er sich besonders an junge Ärztinnen und Ärzte: „Es gibt keine gute Medizin ohne Politik. In den 80er Jahren war es verboten mit Krankenhäusern Gewinn zu machen. Da müssen wir wieder hin!“ In Bezug auf DRGs erklärte er die Rationale der Kliniksökonom*innen: „ein guter Patient bringt Kohle, ein schlechter kostet Kohle“. Im gegenwärtigen Entgeltsystem seien besonders Eingriffe an Herz, Wirbelsäule, Hüft- und Kniegelenk lukrativ und würden deswegen oft auch bei fraglicher Notwendigkeit durchgeführt.
Frau Seidel-Kwem entgegnete, sie wisse nicht welche Operationen lohnend seien. Medizin sei „Dienstleistung im Vertrauen“. Auf die Frage des Moderators Christian Gesellmann, wie finanzielle Verluste einer Klinik beispielsweise durch schwerkranke Kinder als Verlierer des Fallpauschalensytems ausgeglichen werden, verwies Seidel-Kwem auf Querfinanzierung: Am Ende müsse es „unterm Strich passen“. Damit wurde die Finanzmittelknappheit der Kinderkliniken thematisiert. Mehrkosten der aufwendigen Kindermedizin werden im aktuellen DRG-System nicht ausreichend refinanziert, sodass pädiatrische Abteilungen teilweise sogar Verluste generieren, die durch andere erlösstarke Fachabteilungen ausgeglichen werden müssen. Damit gefährdet die Unterfinanzierung die gesundheitliche Versorgung von Kindern und führt besonders in der Kinderintensivmedizin zu einer prekären Lage. Als Ökonomin positionierte sich Frau Seidel-Kwem dennoch als klare Verfechterin für das Fallpauschalensystem. Krankenkassen und Krankenhausgesellschaften berechneten DRGs jährlich neu auf Basis von gemittelten Kostendaten 250 deutscher Krankenhäuser.
Herr Hoffmann stimmte Frau Seidel-Kwem insofern zu, als dass DRGs „rechnerisch seriös“ seien, plädierte aber dennoch dringend für die Abschaffung des Fallpauschalensystems: Mit der Abrechnung nach Fällen sei zwangsläufig der wirtschaftliche Fehlanreiz verbunden, die Fixkosten – vor allem Personal – möglichst zu reduzieren und die Einkünfte durch Generierung von mehr, medizinisch teils fragwürdiger DRGs zu erhöhen.
Frau Ost, die als Gewerkschaftsmitglied bei ver.di den Verhandlungsrunden über den mittlerweile verabschiedeten Tarifvertrag zur Entlastung am UKJ beigewohnt hat, berichtete von einem typischen Arbeitstag. In der Nierenheilkunde am UKJ müsse eine Pflegekraft regelmäßig 13 Patient*innen allein versorgen. Der ständige Stress bei der Arbeit führe dazu, dass man auf die individuellen Bedürfnisse der Patient*innen nicht mehr eingehen könne. „Ich möchte meine Patienten bedarfsgerecht pflegen können!“ wünscht sich Frau Ost. Die Pflege könne schon lange nicht mehr das leisten, was sie leisten müsste. Die Politik habe verschlafen auf veränderte Bedingungen in den Krankenhäusern zu reagieren. Man habe lange Zeit zu wenig Pfleger*innen ausgebildet. Heute nutzten viele Auszubildende der Pflege die Ausbildung als Sprungbrett für das Medizinstudium. Andere würden nach wenigen Jahren im Beruf umschulen, weil sie sich die prekären Arbeitsbedingungen nicht ein Leben lang antun wollten. Das System sei bei Krankenfällen kurz vor dem Kollaps. Insgesamt fehle es an Wertschätzung für die geleistete Arbeit der Pflege.
Frau Seidel-Kwem sprach im Kontext des Pflegenotstandes von einem „negativen Narrativ der Pflege“, in dem die Pflege einseitig als „Opfer“ dargestellt werde. Dies mache die Ausbildung zur Pflegekraft für Bewerber*innen unattraktiv. Herr Hoffmann stellte abschließend treffend fest, bei Bettensperrung oder gar Stationsschließung „erfahren wir, dass Pflege Bedeutung hat. Dafür hätte man einfach nur die Augen aufmachen müssen“.
Weitere Themen der Podiumsdiskussion waren unter anderem die Privatisierung von Krankenhäusern, Gewinner und Verlierer des Fallpauschalensystems und die Zukunft des regionalen und überregionalen Gesundheitssystems.
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